Ihr Schwur
Ihr Schwur
Kurzgeschichte
Die Schienen der alten Dorfeisenbahn werden noch länger als hundert Jahre da liegen. Das sind mehr Jahre, als das restliche Leben eines erwachsenen Menschen.
Auch das von Liebi.
Man hat sie so genannt, weil sie ausnehmend lieb war. Für jeden hatte sie ein gutes Wort und wurde für ihre herzliche und freundliche Hilfsbereitschaft nicht nur gelobt, sondern auch ausgenutzt. Auch von Björn. Er war einfach ein Mann für Frauen. Auch für Liebi. Sie hatte als Krankenschwester ihre Aufgabe in der Klinik und unterstützte ihn. Auch finanziell. Er studierte und verdiente kein Geld. Sie half. Er ließ sich helfen.
Irgendwann hat sie sich auf ihn eingelassen. Damals, während seines Studiums. Schwanger wurde sie. Und er war zu der Zeit auch bei einer anderen. Sie entschuldigte sich. Wegen de Bauches. Sie wolle abtreiben. So ein Unkind von einem lustgeilen Fremdgeher!
Das war.
Die Schienen lagen damals auch schon.
Jetzt ist sie alleine und kämmt ihre langen Haare. Sie reichen runter bis zum Po. Schienenglänzende schwarzbraune wallende vormals gestreichelte Haare. Ihr Coiffeur hat die ersten grauen Haarfäden erfolgreich versteckt, in die Vergangenheit geschickt.
Es ist ein ungeplanter Morgen. Sie schaut nicht auf die Uhr. Weil es egal ist. Die Zeit ist etwas, was ihr den Mann genommen und das Kind gegeben hat.
Zeit macht ihr Angst. Sie sieht zwar die Weichen in die Zukunft, aber fürchtet die Ziele hinter den Weichen. Für sie sind die Weichen verstellt.
Bevor sie die Zähne putzt, fasst sie mit beiden Händen unter ihre nachthemdbedeckten Brüste und hebt sie leicht an. Wie hatte sie es genossen, als ihre Brüste liebkost wurden. Dass sie Nahrung gegeben haben. Dass sie Namen bekommen haben. Schmusenamen. Sie selbst hat ihren Namen, den sie von ihren Eltern bekommen hat, nicht oft gehört, weil ihre Freunde und Freundinnen sie wegen ihrer netten Person Liebi nannten. Eine zweite Taufe.
Sie lässt die Brüste wieder in die natureigene Position zurück und greift nach der elektrischen Zahnbürste. Das Mundwasser schmeckt wie gestern. Lidstrich. Lippenstift. Make-up. Slip. Büstenhalter. T-Shirt. Frühstück.
Ich muss ja keinen Aufwand treiben. Bin ja alleine. Also nehme ich den Käse direkt aus dem Papier. Den Joghurt aus dem zu entsorgenden Plastikbecher. Muss ich nicht in ein Porzellanschälchen gießen. In den Schränken werden Meißner-Porzellan-Geschirre vor dem Zustauben geschützt.
Das Schweigen des Raumes wird durch das Einschalten des regionalen Radiosenders erstickt. Ein wenig Schinken kann ich ja noch nehmen.
Das Telefon.
Die Schienen der Dorfeisenbahn. Sie rufen an. Liebi hört schweigend in sich. Kein Dialog.
Sie ist vierundvierzig Jahre alt und legt sich quer auf die Schienen der alten Dorfeisenbahn. Mit ihr liegt Hoffnung. Warten auf ein Ereignis. Sie liegt da und sieht sich selbst liegen. Sie will Zukunft. Die liegt weit entfernt an diesen Schienen. Weiter weg. Sie ist mit dem Warten verbunden. Sie leistet einen Schwur. Eine Verschwörung zum Warten.
Ihr Lieblingssessel, einziger Zuhörer an den grauen Abenden, beginnt, zu seiner Natur zurückzukehren. Er zeugt Wurzeln und streckt sich, die Sitzende zu umarmen. Das gerade noch gehaltene Buch versetzt sich selbst in seine Herkunft zurück, wird tintig, schleimige Masse von Spänen aus gefälltem Holz, Zellstoff, Derivat von Holz, aus dem auch die Schienschwellen sind. Gesägt, abgesägt, wie die Verbindung zu diesem Mann, der den Samen spendete für das Kind, das die Schienen der Dorfeisenbahn nicht kennt.
Die Augen der Verschwörung verengen das Blickfeld auf das Schienenpaar, welches dort hinten dem Fluchtpunkt zueilt. Abendnebel verschluckt das Bild und die Gleise der Dorfeisenbahn verbinden sich mit der fallenden Feuchte des Nebels und erzeugen Spuren von Rostbelag. Der Rost klettert an dem Leib von Liebi hoch, erfreut sich an der Verwandtschaft mit den fallenden, wallenden, vorher gekämmten Haaren und begehrt sie, um sich mit ihnen farbgleich zu vereinen. Bewegungslos entwickelt sich Liebi zu einer liegende Säule, die auf einen erhebenden Sockel verzichtet.
Gefallene Statue. Erinnerungen erkriechen sie von dem leichten Flugrost der Schienen aufsteigend. Ihr Kichern taumelt voran mit den Händen von Björn, der einst streichelnde Angeschmiegte. Diese Hände und ihre Folgen wurden in Erinnerungen und Windeln verpackt. Später wurden die Windeln zur heimischen Wäsche. Angeschleppte angeschmutzte Kleidungsstücke aus der Ferne, die das Kind nun Heimat nannte. Liebi hat den Wandel kaum wahrgenommen. Wäsche bleibt Wäsche.
Erinnerungen an Wortgefechte mit Freunden, Freundinnen, Nachbarn und dem Metzger im verlassenen Dorf der Eltern kratzen die mehr und mehr erstarrenden Statue eines an den Haken gehängten Lebens an der erkaltenden Oberfläche. Sie dringen nicht durch.
Lippenstiftverzicht über dem packpapierservierten Frühstück. Farblosigkeit der auf den nicht mehr eintreffenden Dorfzug wartenden rostig rauen Liebistatue. Sie wird ein langes Leben haben. Ihre Wohnung hätte sie gewarnt haben können.
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